Zehn Häuser
Als es im März auch in Kenia hieß – alle Schulen sofort schließen, dachten wir wohl alle zunächst an 2 bis 4 Wochen. Und waren noch ganz gelassen. Den Kindern wurde genau erklärt, Hände waschen, auch zuhause, nehmt euch eure Schulbücher vor und lest ein wenig, wir sehen uns sicher bald wieder. Aber schon nach wenigen Tagen war klar, da werden sich Dramen abspielen.
Eltern, die keine Möglichkeit hatten, auch nur irgendwas zu verdienen, irgendeine soziale Absicherung, Kurzarbeit, Arbeitslosengeld, irgendwas – Fehlanzeige. Kinder, die wir bisher in der Schule gut mit Nahrung versorgt hatten, wurden plötzlich zuhause damit konfrontiert, dass es einfach nicht jeden Tag etwas zu essen gibt.
Schon ganz früh haben wir daher unsere erste Lebensmittellieferung organisiert. Angefangen mit den ersten 50 sehr armen Familien und dann immer weitere Kreise. Und nicht einfach wie die Regierung ein paar Kilo Maismehl, sondern so wie wir es immer machen – Maismehl, Bohnen, Zucker, Salz, Öl, Tee, aber auch Seife.
Dann das Ringen darum, wie behalten wir die Kinder irgendwie am Lernen dran, vor allem die Klassen, die ja ihr Examen machen sollen.
Unsere erste Idee war es, einen Radiosender zu mieten. Lokale Anstalten in Nairobi boten schnell sogar TV-Lernprogramme, aber welches unserer Kinder hat schon einen Fernseher. Nicht einmal Laptop oder auch nur Smartphone. Unterricht an einem neutralen Ort mit Abstand und in kleinen Gruppen wurde uns nicht gestattet. Nur auch der Radiosender hätte einfach unser Budget gesprengt.
Was aber erschwinglich war, waren so kleine Radios. Eigentlich eher Lautsprecher mit USB-Anschluss. Und so setzten sich unsere Lehrer täglich hin, sprachen ihre Lektionen für mehrere Tage auf einen USB-Stick, wir kauften kleine Radios für jede unserer Familien und schon ging es los.
Kleinere wurden von unseren Lehrern regelmäßig zuhause besucht, eine Aufgabe geliefert, erklärt, die Hausaufgabe der letzten Woche abgeholt. Dabei auch gleich zugehört, wo sitzen die Probleme, können wir noch was tun, was würde helfen.
Und das alles lange bevor dann plötzlich von der Regierung die Anweisung an alle Schulen kam, doch bitte von Seiten der Lehrer „Community Based Learning“, kurz CBL, anzubieten – also genau das zu tun. Und wohl erstmals in der Geschichte des kenianischen Schulsystems lernten Lehrer öffentlicher und so manch privater Schule ihre Kinder wirklich kennen, nämlich zuhause. Viele wussten ja nicht einmal, wo die wohl wohnen würden. Oder noch absurder, sie trauten sich nicht in die Slums.
Warum es bei uns kein Thema war, liegt an der ganz anderen Herangehensweise unseres Hilfssystems und daran, wie es eigentlich entstanden ist.
Die Anfänge der Vonwald-Schule waren nicht, Eltern bringen mir ihre Kinder, weil da eine Schule gebaut wird. Vom ersten Tag an in Kenia habe ich Familien besucht (und ja, natürlich auch in den Slums). Manchmal war ich von morgens 7 Uhr bis spätnachmittags 17 Uhr ohne große Pausen unterwegs in die weit entlegenen Ecken. Ich hole mir die Kinder in den Familien und dabei sehe ich und sehen unsere Mitarbeiter das Umfeld. Wir wissen, wo unsere Kinder leben, ob sie auf dem Boden schlafen oder in einem Bett, wie viele Geschwister und ob die in eine Schule gehen. Gibt es einen Vater, eine Mutter, oder werden alle von einer Oma betreut. Das alles waren und sind bis heute wichtige Informationen, um zu verstehen, warum lernt ein Kind vielleicht nicht. Wenn man weiß, dass da ein Mädchen als älteste um 4 Uhr geweckt wird, um in 4km Entfernung 20 Liter Wasser für die Familie zu holen und dann erst in die Schule gehen darf, dann wundert man sich nicht, warum sie in der ersten Stunde einschläft. Und man kann gegensteuern, mit den Eltern reden.
Eltern ist auch so ein Stichwort. Wir holen seit Jahren die Eltern ins Boot, predigen, dass sie Verantwortung tragen, informieren sie in kleinen Meetings über alle Schritte, halten sie dazu an, ihren Kindern den Raum zu geben, sie beim Lernen zu unterstützen, auch wenn sie selbst Analphabeten sind.
Wir haben Elternvertreter und natürlich engsten Kontakt mit allen Dorfältesten.
Das System der Dorfältesten ist sozusagen die Basis der Demokratie in Kenia. Man nennt es auch „njumba kumi“ – 10 Häuser. Und es funktioniert in der ländlichen Gegend, aus der wir überwiegend unsere Kinder holen, ganz hervorragend. Immer 10 Häuser wählen einen Dorfältesten, sozusagen ihre direkte Volksvertretung. Dieser Dorfälteste weiß einfach alles über „seine“ Familien, die Fakten genauso wie die Geschichte und den Dorftratsch. Und wenn wir etwas umsetzen wollen, dann immer über diese Dorfältesten.
Da wir also immer schon „Feldarbeit“ betrieben haben, viele unserer Mitarbeiter genau dafür angestellt wurden (wir investieren also nicht nur in Lehrer, Köche und eine Sekretärin), konnten wir auch unsere Lehrer gemeinsam mit unseren Sozialarbeiter zu den Familien schicken, Eltern informieren und sie davon abhalten, ihre Kinder betteln zu schicken statt zu lernen, und dazu noch die Dorfältesten, die uns unterstützt haben.
Natürlich ist das nicht das Gleiche wie lernen in einer Klasse. Aber es ist für ein Dritte-Welt-Land das Beste, was wir aus der Situation machen konnten.
Auch die Vorbereitungen für das Ende der schulfreien Zeit haben wir sehr früh erfahren durch ständigen engen Kontakt zu allen Behörden. Und haben uns sehr früh auch kontrollieren lassen. O-Ton dieser Kontrolleure: „Wenn hohe Minister kommen und mal eine Vorzeigeschule sehen wollen, schicken wir sie zu euch.“
Wir haben es also bisher ganz gut geschafft. Aber etwas nur gut schaffen ist für so einen Perfektionisten wie mich nicht genug. Die Frage daher – was haben wir gelernt, was können wir mitnehmen.
Und ich freue mich, dass da scheinbar alle Lehrer und Mitarbeiter einer Meinung sind – die Kinder haben Eigenständigkeit gelernt, wir werden in Zukunft mehr Projektarbeiten machen, mehr Teamarbeiten in kleinen Gruppen. Vor allem aber – wir werden noch mehr Tablets anschaffen, denn ehrlich, die haben uns nicht nur gerettet, sondern ich glaube, sie sind die Zukunft. Ziel ist es daher, auch die Klassen 7 und 8 der Primary bis zum Sommer voll zu bestücken. Gerade arbeiten wir mit einem der größten Schulbuchverlage einen Vertrag aus, dass wir in Zukunft um einen Bruchteil des Geldes, was wir bisher für Bücher ausgegeben haben, diese einfach auf die Tablets laden können.
Danke daher an alle Sponsoren, Danke aber auch an fantastische Lehrer und Mitarbeiter, die sich mächtig ins Zeug gelegt haben, um kein Kind zu verlieren.
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