Ich habe es ja schon oft gesagt – in Kenia verhungert niemand so, wie wir das von so manchen Bildern kennen. Kinder mit extremer Unterernährung, Hungerbäuche, zu schwach, um die Fliegen von den Augen zu blinzeln. Diesen Hunger gibt es nicht.
Nur – mal satt essen, das gibt es für die meisten armen Menschen in Kenia auch nicht.
Wenn ich um Hilfe gebeten werde, mich jemand sprechen will, ich Familienbesuche mache, stelle ich daher fast immer nach ein paar Minuten auch die Frage:
„Wann hast du das letzte Mal gegessen?“
Bei uns in Europa wäre wohl die Antwort je nach Tageszeit – ich habe gefrühstückt, Mittag gegessen, Abendessen, gerade an der Dönerbude oder auch nur einen Snack – Kühlschrank auf, Kekspackung, Schokoriegel oder wenigstens Obst. Und würde jemand mittags sagen – gestern morgens, würden wir höchstens vermuten, okay, Person auf Diät.
In Kenia bin ich oft schon froh, wenn die Antwort gestern ist, sehr oft höre ich aber, vorgestern.
Unsere liebe Sarah hat ja den Begriff geprägt -Geschichten vom Wegesrand. Drei solcher Geschichten hab ich heute. Alle handeln genau davon, vom Hunger. Ich bin gestern aus Kenia zurück gekommen, da ist alles noch frisch. Und diese „Fälle“ sind es besonders, denn noch drei Stunden, bevor ich zum Flughafen gefahren bin, hat sich der folgende ereignet.
Ich bekam früh morgens eine Nachricht auf mein Handy – WhatsApp. Eine Elisabeth bat mich um Hilfe, sie sei am Ende und vielleicht sei es besser, auch für ihre kleine Tochter, sie wäre nicht mehr da. Bei mir schrillten alle Alarmglocken, ich konnte sie überreden, in einer Stunde in der Schule, Security am Gate informiert, wenn eine Elisabeth mit Kleinstkind kommt, durchlassen und mich holen.
Und da saß sie vor mir. Die Geschichte, extrem gute Schülerin, Matura mit B-, was in Kenia direkt zur Uni führen kann, allerdings ein Rückstand der Schulgebühren, Schule händigt ihr das Zeugnis nicht aus, ohne keine Uni. Dann auf den falschen Mann herein gefallen, schwanger, aber sie kämpft sich durch, nimmt einen Mini-mini-mini-Kredit auf, kauft Ware, kommt gut ins Geschäft, und gerade, als es so ein wenig bergauf geht, Einbruch, alles gestohlen. Wirklich alles, sogar die Windeln der Kleinen. Und jetzt hat sie einen Rückstand des Kredites, die drohen ihr schon, sie konnte drei Monate die Miete nicht zahlen, soll jetzt auf der Strasse landen, sie weiß einfach nicht weiter. Insgesamt reden wir hier von 60 Euro und natürlich hab ich das übernommen. Und dann meine Frage – wann hast du das letzte Mal gegessen. Vorgestern. Und deine Kleine? Panik im Blick, sie drückt sie fester, sie würde voll stillen. Wer weiß, wieviele Kalorien man benötigt, um Milch zu haben und sein Kind stillen zu können, weiß auch, nur eine Frage der Zeit. Also lege ich noch 30 Euro drauf und sage ihr, kauf Lebensmittel. Und wir werden uns kommende Woche auch um den Rückstand in ihrer alten Schule kümmern, das sind 170,-, damit sie ihr Zeugnis bekommt, und dann schauen wir mal, sie möchte so gern studieren.
Nummer zwei ist die Mama von einem unserer neuen Kinder. Mir wurde zuerst gesagt, sie sei krebskrank, daher würde die Tochter so viel weinen. Ich will die Frau besuchen, das tun, was ich immer tue, ein Foto. Sollte die Mama sterben, bin ich die Bewahrerin der Erinnerungen für ihr Kind. Nur, die Mama hat keine Krebserkrankung – soweit die gute Nachricht. Sie hat offene Unterschenkel-geschwüre, ist extrem unterernährt, massiver Mangel an Nährstoffen. Wir kaufen ein großes Essenspaket, beraten sie – Eiweiß, Obst, Vitamin D aus der Apotheke, Wundpuder. Auch der Arzt, bei dem sie war, hat zur Diagnose geschrieben, unterernährt. Das wars. Festgestellt, nicht zu ändern. Im Juni schaue ich wieder vorbei.
Fall Nummer 3. Im Büro meldet sich eine Mutter mit Teenagertochter, sie bittet, ob wir die Tochter zu uns in die Highschool nehmen könnten, wir wären die letzte Hoffnung. Während unser Mr. Kazungu mit ihr spricht, fängt das Mädel plötzlich heftig zu weinen an und auf die erschrockene Frage, was denn jetzt passiert sei – sie habe so großen Hunger. Nun, natürlich mal in der Küche Essen besorgt und gemeint, wenn ich dann da sei, solle sie wieder kommen. Wir sitzen also wenige Tage später auf meiner Veranda. Schwieriger Fall, das Mädchen wäre eigentlich in Form 2, sehr schlechte Noten, aber ihr Gesicht zeigt mir nur einfach, bitte lass mich lernen, ich kann es besser. Ich frage sie, warum sie solche Noten habe. Antwort, wir essen nur alle drei Tage und ich hab zwei jüngere Geschwister. Und ich kann mich so schlecht konzentrieren dann, weil ich so hungrig bin.
Die Mutter hört die Antwort, schlägt die Hände vors Gesicht, sie schämt sich so.
Wir nehmen Franziska und auch die jüngere Schwester zu uns, der Mutter gebe ich Essensgeld. Und es kommt so ein tiefer Seufzer, wie ich ihn ganz oft höre, wenn die Last abfällt, man plötzlich Hoffnung hat. Für beide Mädchen werde ich jetzt Paten suchen.
Dreimal Hunger, dreimal Schicksale am Wegesrand.
Gabriela Vonwald